Archive for the ‘Erfurt’ Category

Es lebe die Freiheit

Oktober 3, 2010

Heute ist die Wiedervereinigung 20 Jahre her. Auch für Erfurt markierte sie einen enormen Umbruch, konnten so doch weite Teile der historischen Altstadt erhalten werden, die sonst die 90er-Jahre nicht überstanden hätten. Auch wirtschaftlich und kulturell hat sich so viel verändert: es gibt nun eine Universität und über 10.000 Studenten in der Stadt, es gibt ein Messegelände, eine vielfältige Medienbranche und eine große Solarzellenfabrik. Auch eine neue Autobahn, ein neuer Bahnhof und ein modernisiertes und erweitertes Straßenbahnnetz entstanden seitdem. Waren die 90er noch eine schwierige Zeit, geprägt von der ökonomischen Vollbremsung nach dem Ende der DDR, so kann man doch sagen, dass die Stadt seit einigen Jahren blüht und gedeiht. Die Einwohnerzahlen steigen, die Arbeitslosigkeit hat sich halbiert und liegt nun bei unter 10 % in Bereichen, wie sie auch in westdeutschen Großstädten anzutreffen ist. Selbst jene, die ihre Arbeit verloren haben, können heute eine sanierte, zentralgeheizte Wohnung mit Badezimmer bewohnen und dank Aldi, Lidl & Co. Bananen bis zum Erbrechen verzehren. Das heißt, es wurde viel erreicht.

In den Köpfen geht es langsamer als in der Echtzeit. Die Welt verändert sich nun in der „Großstadt“ so schnell, dass nicht alle mitkommen. Es gibt nun Jugendgangs, sowohl Ur-Rieth als auch Saratow-Rieth oder Gaziantep-Rieth, es gibt Bordelle, es gibt Leute, die Drogen nehmen und es gibt Leute, die in der Straßenbahn auf den Plätzen für die Ommas sitzen. Es gibt auch Leute, denen das zu schnell geht, es überfordert sie und sie suchen etwas Halt, Halt in der Vergangenheit, die doch sehr viel klarer und einfacher strukturiert war. Diese Menschen kann man wohl heute nicht mehr mitnehmen, in diesem Fall hilft uns nur die Zeit, die wohl irgendwann alle Wunden eine Etage tiefer legt. Wer mal in die Köpfe dieser Menschen schauen will, dem sei der Offene Brief an die Landtagsabgeordnete ab Seite 2 empfohlen.

Nun aber zum interessanten Teil. Diese 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland werden natürlich auch gefeiert. In Erfurt? In Erfurt gibt es ein „Bürgerfest“, aber nur von 13 bis 17 Uhr vor dem Rathaus. Das ist das kleine Ding. Das große Ding, das ist der verkaufsoffene Sonntag. Er ist sozusagen die offizielle Siegesfeier des Kapitalismus, lang lebe der Konsum (der mit langem U), lang leben die vollen Regale, kaufen, kaufen, kaufen. Mal ehrlich, liebe Stadtverwaltung, muss denn sowas sein? Muss ausgerechnet am 20. Jahrestag der Neugründung des Landes keine Zeit für eine andächtige, feierliche Minute gelassen werden? Heute ein verkaufsoffener Sonntag, das ist zwar schon irgendwie ulkig und zeigt, dass wir angekommen sind in der neuen Zeit, aber es ist irgendwie auch unwürdig. In unserer Stadt sind vielleicht noch 20 % der Bevölkerung Christen und trotzdem werden verkaufsoffene Tage an christlichen Feiertagen vermieden, wegen der Bedächtigkeit. Aber die ganze Bevölkerung ist vom Tag der deutschen Einheit betroffen und fast alle können damit etwas verbinden – in keinem, aber wirklich gar keinem unserer Nachbarstaaten würde der 20. Jahrestag der Republik mit einem verkaufsoffenen Tag und so ziemlich ohne Feiertamtam begangen werden. Als gäbe es nichts zu feiern… In Erfurt sieht man doch deutlicher als irgendwo anders in Neufünfland, dass es etwas zu feiern gäbe.

Montag

Januar 12, 2010

Für alle, die es schon immer wissen wollten: wie verläuft eigentlich so ein Montag in Erfurt, nachdem es in der Nacht drei Zentimeter Neuschnee gab?

09:05 Uhr: Die Badezimmertür fällt zu. Mist, da ist diese Frau in der Wohnung, jetzt im Bad. Da im Badezimmer auch die einzige Steckdose der Wohnung ist, kann man sich auch nur dort föhnen. Das dauert dann natürlich ein bisschen.

09:23 Uhr: Die Frau ist fertig, jetzt kann ich, hurra. Ich dusche bis 09:36 Uhr, danach frühstücke ich. 09:36 Uhr? Okay, heute kein Frühstück.

09:43 Uhr: Im Briefkasten ist natürlich der neue Spiegel nicht. Also geht es zur Straßenbahn. Nanu, da fährt ja schon eine 5, die ist dann wohl vier Minuten zu spät, also kann ich mir zur nächsten noch etwas Zeit lassen und langsam laufen. Nicht so am Montag, denn das Entertainment-Programm der EVAG beginnt mit einer Kolonnenfahrt nach dem bewährten System dreimal Fünf. Ich nehme dann Tor 2, da ist nicht der Zonk.

09:48 Uhr: Ankunft am Anger, wo sich der Zonk schonmal warm macht. Dann spricht er mit zentralthüringischer Stimme aus dem Off zu mir: „Werte Fahrgäste (fahren!? ich stehe noch!), bitte beachten Sie Behinderungen durch erschwerte Witterungsbedingungen. Die Linien 1, 2 und 5 verkehren unregelmäßig nach einer vereisten Weiche, auf den Linien 3 und 4 gibt es momentan kein Verkehrsangebot in Folge eines Unfalls und auf der Linie 6 kommt es zu Verzögerungen aufgrund von Verkehrsstau im Bereich Kaffeetrichter.“

10:04 Uhr: Am Anger hat sich wegen der viertelelf  beginnenden Uni ein gewisses aufgestautes Verkehrsbedürfnis gebildet, das durch einen Wagen der Linie 6 bedient wird. Das bedeutet, dass die ungeduldige ältere Dame, die zum Arzt muss, als erstes in die Bahn rammelt und durch das Verkehrsnachfragebedürfnis langsam nach hinten durchgeschoben wird.

10:09 Uhr: Der Wagen kommt an der Webergasse an, wo sich der Arzt der älteren Dame befindet. Deshalb wird die Bahn ausgeräumt, die Dame freigelassen und die Bahn anschließend wieder bepackt. Ein Glück, dass wir im Osten sind. Im Westen wärs womöglich keine ältere Dame, sondern ein Kinderwagen gewesen, was für ein Graus, wie viel Platz der weggenommen hätte…

10:18 Uhr: Mittlerweile haben wir uns zur Universität getrödelt, wo die Bahn – diesmal endgültig – ausgekippt wird. Das bedeutet, dass ich etwa zehn Minuten zu spät im Seminar ankam.

10:44 Uhr: Im Seminar passiert eigentlich nichts, doch dann stelle ich eine Frage. Der Dozent erwiedert: sosehr ich Ihre Mitarbeit begrüße, aber sie müssen schon vorher die Texte zum Seminar lesen. Okay, es ist Montag. Also lassen wir das mit der Mitarbeit lieber erstmal sein.

11:58 Uhr: Mittagessen mit einem Kommilitonen. Das Tischgespräch kreist um die Hausarbeit in Politik und enthält auch die erste Pointe des Tages. „Eigentlich wollte ich erst über Haider schreiben, aber man schreibt ja nicht über tote schwule Faschisten aus Österreich, das gehört sich einfach nicht, wenn man nicht Guido Knopp ist.“

13:18 Uhr: Im Spanischunterricht sollen wir eine Zukunftsvorhersage für einen Kommilitonen schreiben. Wie immer wenn Montag wird auch hier hart verhandelt: okay, sie bekommt hübsche Kinder, aber nur, wenn sie dafür geschieden ist. Gut, so geht das durch.

14:38 Uhr: Zuhause ein bisschen Hausarbeit schreiben, um Wikipedia geht es diesmal. Nachdem das Netz etwas  stottert, bricht es letztlich ganz zusammen. Gut, dann eben jetzt keine Hausarbeit – ohne Internet ist das ja zum Thema Wikipedia nur schlecht zu machen. Also einfach Sitzen. Sitzen. ……..   ……… …….. … …..     ……    ……. … ….. ……      ….  … Sitzen.

17:23 Uhr: Wieder auf dem Weg zur Uni. An der Straßenbahnhaltestelle hat sich wieder eine gewisse Betriebsamkeit eingestellt. An der Anzeige steht, dass die Linie 1 in 12 Minuten fährt. Schön, dann fährt ja sicher in 2 Minuten auch noch eine, weil die Anzeige öfter mal eine Bahn unterschlägt. Heute nicht, weil Montag ist, arbeitet die Anzeige zuverlässig.

17:37 Uhr: Eine etwas überfüllte Bahn fährt vor, um das aufgestaute Verkehrsbedürfnis zu befriedigen. Diesmal geht es bis kurz hinter die Futterstraße, dann ruckt es und dann steht es. Der aufmerksame Beobachter fragt sich jetzt: nanu, was hat das EVAG-Entertainment-Programm-Special „Montag“ vorbereitet? Eine vereiste Fahrleitung? Eine Weichenstörung? Ein Schaden am Triebfahrzeug? Nein, es ist der erste Cayenne des Tages. Asche auf mein Haupt, dass ich den Brandsatz zuhause vergessen habe. Nach drei Minuten intensiven Klingelns lässt sich auch dieses Problem lösen, indem der Lackaff seine Kaschemme beiseite fährt.

17:48 Uhr: Am Anger passiert erstmal nichts. Dann hat das Programm einen weiteren Höhepunkt vorbereitet: eine Bahn, die am Anfang ihres quirligen Lebens als 4 geboren wurde, fährt nun – wie flexibel – als 3 zur Universität. Deshalb bin ich diesmal sogar nur fünf Minuten zu spät im Seminar. Diesmal gibt es dort einen Gastredner (das Seminar beschäftigt sich mit Medienpolitik), der – um mich zu beglücken – über rechtliche Fragen für Journalisten spricht. Nachdem mein unterdrücktes Verlangen nach juristischen Inhalten befriedigt wurde, kam ich, um meinen Tagesablauf nicht durcheinander zu werfen zehn Minuten zu spät aus dem Seminar. Nach so einem Tag brauche ich ein gutes Abendessen. Döner? Hm, um die Uhrzeit, ist der da denn noch frisch? Lieber nicht. Linsensuppe aus der Dose? Unmöglich, heute (Montag) kann ich nicht noch das Risiko eingehen, auf einen Dosenöffner angewiesen zu sein. Das würde weiser Voraussicht nach nicht funktionieren. Also machen wir doch einfach gemäß der Vorgaben des Gehirnzentrums für Risikobewertung Pizza.

19:52 Uhr: Am Anger angekommen, gehe ich rüber zur Linie 5. Das Entertainment-Programm sieht jetzt den zweiten Cayenne an der Futterstraße vor. Okay, mein Gott, geht doch immer, was solls. Moment, so nicht. Es ist nach der Geschäftszeit, das bedeutet, dass niemand kommt, wenn man drei Minuten klingelt.

20:04 Uhr: Langsam reift in mir die Erkenntnis, dass ein geschickt ins System eingespeister Cayenne mehr bewirken kann, als drei vereiste Weichen, ein Verkehrsunfall und 27 Kilometer Stau im Bereich Kaffeetrichter.

20:12 Uhr: Das minderjährige Bückstück neben mir fängt auch schon an zu frieren, so wie ich auch. Bärbel und Renate*, die wohl gerade vom Ährrobbickkurs kamen, diskutierten hingegen, wie sie nach Hause kommen. Nach einigen Telefonaten stellt sich heraus, dass der Rainer* mit dem Auto zum Europaplatz kommt und die beiden dort holt.

20:17 Uhr: Was sieht denn das Informationsangebot der EVAG jetzt vor? Hmm, die 5 hat Stau, aber es kommt noch eine 2, die zum Betriebshof an der Lutherkirche fährt. Das klingt nach Hoffnung in 26 Minuten.

20:31 Uhr: Mittlerweile fahren bereits Bahnen vor, die ein N im Namen tragen und fahren, wenn das Männchen pfeift. Auf der Anzeige taucht nach wie vor der Falschparker auf der Johannesstraße auf. Wie diskriminierend. Wer sagt eigentlich, dass es keine Falschparkerin ist? Diese Frage beschäftigt mich noch weiter und wurde erst von der Frau in meiner Wohnung geklärt: „Meinst du wirklich, dass eine Frau einen Cayenne auf der Johannesstraße bei Schnee falsch geparkt kriegt?“. Da hat sie natürlich auch wieder recht.

20:38 Uhr: Der Knoten ist geplatzt, zur Abrundung des Entertainment-Programms endet der Tag, wie er begonnen hat: mit einer Kolonnenfahrt aus gefühlten sieben Wagen, die hinter dem Falschparker/-in in der Johannesstraße festhingen.

20:56 Uhr: Ankunft dorhäme nach einem kurzen Einkauf in dor Kaufhalle. Nun noch Pizza machen, ein bisschen mit den Frauen aus der Wohnung philosophieren.

23:43 Uhr: Ins Bett. Also wieder ne Woche Ruhe und dann Montag. Bis dann 🙂

* Namen von der Redaktion geändert.

In der Mitte in Liebe erdrückt

November 19, 2009

Ein Essay, um am Exempel grundsätzlich zu werden.

Oh je, oh je… verlieren wir die Mitte? Steht Deutschland am Abgrund? Alles wird immer schlimmer, sogar die Studenten protestieren wieder. Aber, genau das zeigt uns, dass wir mittlerweile alle beklemmend Mitte geworden sind.

1928, die Mitte zerbröselt und driftet nach links, vor allem aber zunehmend nach rechts. So war es. 13:55 Uhr, die Tür geht auf, ein schönes Wochenende noch, die Weimarer Republik ist vorbei. 14 Uhr, Demonstration auf dem Willy-Brandt-Platz: Bildung für alle. Doch langsam. Erstmal mit der Bahn hinfahren. Hinter mir höre ich schon Constantin, meinen soziologischen Prototypen. Constantin ist etwas zu groß und etwas zu fett, spricht etwas undeutlich, aber doch deutlich genug, um seine Wurzeln im Großraum Bielefeld zu verorten. Er studiert Staatswissenschaften, rechtliche und sozialwissenschaftliche Richtung. Mit dabei sind dann immer auch noch Alina und Josephin, die ihm zuhören (müssen?). Er erzählt von den Stura-Abstimmungsmodalitäten und was sie für einen Kniff angewendet haben, um irgendetwas durchzusetzen. Es ist ja in der Sache auch völlig egal, es geht nur darum: Constantin war dabei, der Held. Dann erzählt er von früher, der alte Haudegen. Als er noch Schülersprecher war, haben sie auch immer nicht die Schülerversammlung gefragt, sondern einen Schülerrat gegründet, ganz spontan, und der hat dann entschieden, was sie haben wollen. So ein richtiger Maoist ist er, unser Constantin. Am Bahnhof steigt er aus, um zur Demo zu gehen. Ich auch. Ich gucke und er wird geguckt. Ich gefalle mir beim Zugucken und er gefällt sich beim Beguckt werden.

Die Demo ist inzwischen schon vorangeschritten. Constantin erläutert seinen beiden Damen, dass wohl höchstens 117 Leute mitmachen werden, oha, das wird wieder peinlich und unnütz werden, wo er doch nicht dabei ist. Der Demozug ist am Löbertor. Und siehe da: 150 Leute sind es, maximal. Erstmal gibt es hier natürlich eine gewisse Situationskomik: der Honecker hat damals den Juri-Gagarin-Ring neu bebauen lassen, schön sozialistisch, Plattenbau und wums. Als Aufmarschstraße ist das gedacht. Und jetzt, 25 Jahre später marschiert dort diese Gruppe.

Was ist das für eine Gruppe, was treibt sie an? Zunächst muss man festhalten, dass es allein in Erfurt 10.000 Studenten gibt, in den Nachbarstädten sind es dann nochmal einige zusätzlich. Davon kommen 150, obwohl das derzeitige Uni-System durchaus genügend Anlass zum Protest gibt, in gewisser Weise ist es schon untragbar geworden. Zum Vergleich: beim Besetzten Haus sind 1000 Demonstranten gekommen, beim CSD dieses Jahr etwa 600. Und wenn es um Bildungspolitik geht. Ja. 150. Der Lenin hat mal die Partei neuen Typus erfunden. Dort gibt es kein Parteimitglied, sondern einen Berufsrevolutionär. Und in gewisser Weise ist es heute auch so. Denn da demonstrieren nicht etwa die, deren Studienbedingungen völlig untragbar sind – im Falle der Uni Erfurt sind das vor allem die Studierenden der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät – nein, es sind die Damen und Herren Staatswissenschaftler. Denen geht es eigentlich gut, die haben an der Uni alles, was sie so brauchen. Und warum demonstrieren sie da? Constantin würde sagen: weil sie sich für ihre Sache [Berufsrevolutionär] engagieren wollen. Aha. Ist es nicht vielmehr so, dass sie von ihrem Leben in der Mitte der Mitte völlig gelangweilt sind und aus Spaß, aus Abenteuer demonstrieren gehen? Hier, im wilden Osten, in den sie vor ein paar Semestern aus der westfälischen Kleinstadt kamen? Man kann sich ja dadurch wahnsinnig profilieren, oh, wie wird sich das erst im Lebenslauf machen? Großartig. Man ist engagiert. Das ist der Beweis. Und so bekommt jeder ein Trillerpfeifchen, weil man gern und oft demonstriert, Sache erstmal egal. Man ist Staatswissenschaftler, man demonstriert. Man muss es denen beweisen.

Denn die, die wirklich unzufrieden sind und sein müssen, die können nicht demonstrieren. Sie haben es nicht gelernt. Ihre Eltern sind Ossis, die es geschafft haben, ihr Kind auf eine Universität zu schicken. Sei schön fleißig und höre immer gut zu. Während demonstriert wird, müssen sie an der Kasse in der REWE sitzen und ihr Studium finanzieren, danach gehts dann ins Seminar. Sie sind auch unzufrieden, aber sie suchen die Schuld bei sich, das sie nicht genug leisten oder sich nicht genug anstrengen. Und die Politik? Sie tötet diese Demonstration. Denn es gibt keine Reibung mehr, wir sind alle Mitte. „Die Studenten haben recht, die Studenten müssen gehört werden…..“ Dadurch wird Protest, Reibung mit Liebe erdrückt. Früher konnte sich die Krawallelse (das ist die Dame, die sowohl beim Besetzen Haus, wie auch beim CSD und beim Bildungsstreik im Plärrwagen sitzt und ins Mikro brüllt) wenigstens noch an den Vertretern des Polizeistaats reiben. Aber nun, nach dem Ende der Ära Althaus ist auf dem Polizeikleinbus auch noch die Kamera umgedreht, weg vom Demonstrationszug. Es wird nur ein Audio-Mittschnitt gefertigt.

Spätestens in diesem Moment fragt man sich dann, was das denn eigentlich soll? Ein Demonstrationsmarsch aus im Westen zusammengekauften Politikstudenten (die ihr Ego mit „jaaa, ich bin engagiert“ aufpolieren), der von der Politik unterstützt und von der Thüringer Polizei nicht gefilmt und/oder mit Schlagstock begleitet wird. Eine Demonstration gegen die Herrschenden mit deren ausdrücklicher Unterstützung. Das ist quark. Sozusagen eine Mantelspekulation, mehr nicht. Oder, je nach dem, wie man es sieht: es ist der Ausdruck der Mitte und ihrer Kinder. In einer Gesellschaft der Individualisten der Mitte gibt es keine Demonstrationen mehr, sondern nur noch „Demonstrationen“. Unzufriedenheit, Leid, schlechte Zustände sind in unserer Gesellschaft individualisiert. Still. Stumm. Da gibts nichts mehr zu protestieren. Als die Straßenbahn zurück die Bahnhofstraße hinunter fährt, spiegelt sich ein Obdachloser in ihren Fenstern und prüft, wie seine Haare liegen. Er braucht nicht demonstrieren, es interessiert ja sowieso keinen. Solange es nicht mehr reibt, sind wir für meine Begriffe ein bisschen zu sehr Mitte geworden, ge?

Der Tag, an dem die Revolution im Teletubbyland scheiterte

April 16, 2009

Kennen Sie diesen Werbespot einer Automarke, in dem Marx, Ché und Castro ergraut auf der Bank sitzen und sich sagen, dass es mal wieder Zeit für eine Revolution wäre? So ähnlich ist es jetzt auch in Erfurt. Acht Jahre dauerte die Hausbesetzung bei Topf & Söhne auf dem Werksgelände nun. Die Revoluzzer sind müde geworden, der Kampf ist verloren. Und eine weitere historische Parallele, diesmal von der anderen Seite: es war jener 14. Juli, damals vor 220 Jahren, als die Bastille gestürmt wurde. Damals befreite „das Volk“ sechs (6!) Gefangene. Und heute? Heute wird das Volk durch die Staatsgewalt, sprich die Polizei, repräsentiert. Das Volk stürmte also heute Morgen heldenhaft die Bastille der bösen Besetzer und setzte ein, vielleicht zwei Dutzend von ihnen fest.

Vor 60 Jahren beschlossen ein paar weise Männer, ein Blatt Papier zu beschreiben. Oben ist der Adler drauf, das Gesamtkonzept ging unter der Bezeichnung Grundgesetz in die Annalen des Jurastudiums ein. Auf diesem Blatt Papier schrieb irgendein Hansel (sicher niemand vom Thüringer Innenministerium), dass sich Menschen frei bewegen dürfen, sprich: sie dürfen sich den Ort selbst aussuchen, an dem sie sich festsetzen. Was bietet sich da an? Richtig, der Anger. So wirds gemacht, und gleich noch eine Schweige- und Sitzblockade obendrauf. Leider nimmt in einer Stadt von 200.000 Einwohnern niemand eine Schweigeblockade wahr. Dafür waren dann die Teletubbies, hübsch verpackt in unhandliche aber einfarbige Kostüme, zuständig (Haben Sie eigentlich schonmal einen Teletubbie mit Schnauzbart gesehen? Fetzt auf alle Fälle.). Und da die, na sagen wir 250, Teletubbies bekanntermaßen sehr auffällig im Erscheinungsbild sind, kommen Schaulustige und Schauernste, vielleicht auch der ein oder andere Schaudieter und Schaugerd zum Anger, um zu schauen. Da Teletubbies in der Regel mit Vorschulkindern zu tun haben, dürfen sie sich auch auf die Straße stellen, ohne dass das sofort sanktioniert wird. Das taten sie dann – wie so oft in den letzten Monaten – sehr zahlreich, was wiederum bei mir (ich bin nun schon dem Vorschulalter entwachsen, also nicht mehr Zielgruppe im eigentlichen Sinn) und vielen Anderen eine gewisse Genervtheit auf den Plan ruft. So auch bei der EVAG. Früher stand da im Laufband noch respektvoll etwas von Teletubbie-Einsatz, inzwischen ist man sichtlich genervt zur Formulierung Teletubbie-Aufgebot übergegangen.

Und jetzt? Hat Erfurt kein besetzes Haus mehr. Davon hätte wohl niemand Notiz genommen, ebenso wie von der doch recht niedergeschlagen wirkenden Demonstration auf dem Anger. Aber dank des Thüringer Innenministeriums und seiner Polizei, wird jeder Sterni-betankte Chaot mit bunten Haaren zum gefährlichen Linksextremisten staatszerstörender Prägung hochstilisiert, weshalb man Hundertschaften von Spezialkommandos aus aller Herren Bundesländer benötigt, um diesem – im Grunde genommen – traurigen Haufen entgegenzutreten. Eine Deeskalationsstrategie ist was anderes, ein wirtschaftliches Haushalten sowieso, aber das wird sich wohl noch nicht bis in CDU-geführte Ministerien herumgesprochen haben. Und so geht dieser 16. April 2009 ruhmreich in die Annalen der Thüringer CDU ein, als der Tag, an dem der endgültige Sieg gegen revolutionäre Elemente heldenhaft erkämpft wurde. Und die Mutti ruft jetzt mal beim Landesrechnungshof an.

Erfurt: 10 km

April 3, 2009

Es gibt Erfurt, es gibt Umland, zum Beispiel Weimar oder Gotha und es gibt den Landkreis Sömmerda, der in 100 Jahren ein hübsches Savannenbecken sein wird, in dem Löwen durch die Ruinen Großrudestedts streifen werden. Aber soweit sind wir noch nicht, denn es regnet zu viel (obwohl 350 mm/Jahr nicht wesentlich mehr ist, als in der Sahelzone), es ist zu kalt und es gibt noch zu viele Menschen. Von diesen Menschen und ihrer großartigen Zivilisation möchte ich heute einmal berichten.

Es ist ja so wunderbares Frühlingswetter und da dachte ich, machste mal eine kleine Radtour ins Land hinein, der Plan war also erst durchs Geratal nach Gebesee zu fahren, von dort weiter nach Herbsleben und weiter nach Bad Tennstedt. Hinter der Stadt kommen erstmal das Hotel Moskau und die NQV, das ist die Nord-Quer-Verbindung, eine Hopperplattenstraße quer durch die Plattenbaugebiete des Erfurter Nordens. Danach erreicht man das erste richtige Dorf, Gispersleben. Der Kontrast zwischen der Hochhaussiedlung hier und dem angrenzenden Bauerndorf dort könnte größer nicht sein. Man fühlt sich in einem Moment von der Großstadt tief ins Herz eines Dessauer Vororts katapultiert. Das Land ist flach, weit und schon Anfang April so verdörrt, dass es zur Savanne eigentlich nicht mehr weit ist. Hinter Gispersleben wird die A71 unterquert, sozusagen als Warnung: Sie verlassen jetzt Erfurt. Dahinter gehts weiter über vertrocknete Äcker, zwischen denen die eingedeichte Gera fließt (was für eine Seltenheit in Thüringen: Deiche). Es folgt Kühnhausen, Wahrzeichen: Zentralkläranlage Erfurt mit 876.465 Hektar angeschlossenen Rieselfeldern. Dann geht es durch Elxleben, dort gibt es einen Edeka Aktiv-Markt, das Hotel Elxleben und ein sehr großes Kriegerdenkmal vor der Kirche. Ebenfalls in Elxleben: de El-bej-gej, inzwischen Argargenossenschaft. Dort trifft man Jungbauer Kevin (der hat *natürlich* das größte Scheunentor von allen und ist damit sozusagen der Größte aller SÖMer). Er ist mit seinem Trecker unterwegs und hört dabei Remmidemmi von Deichkind. Großartig. Ich kann mir vorstellen, dass der Kevin so ein richtiges Deichkind ist und einmal in der Woche mit seinem Polo zum Nordstrand fahren muss, um … na, lassen wir das, ihr wisst ja: Großraumdisco und so…

Das nächste wunderschöne Dorf an der Gera ist Walschleben. Walschleben liegt an einer Thüringischen Autobahn, wie die Beschilderung unzweifelhaft verdeutlicht: Thüringer Rostbratwurst 300 Meter rechts. Thüringer Rostbratwurst 100 Meter rechts. Thüringer Rostbratwurst rechts. Hinter diesen Schildern steht derweil ein alarmgesichertes Schaf, das ganz laut zu blöken anfängt, sobald man die Kamera zückt und ein Bild von der Bratwurstautobahn schießen will. Hinter Walschleben geht es über eine Gera-Brücke, der Radweg führt aufs Feld. Und dort passiert es: die schlauen Bauern haben rostige Nägel gestreut, um Eindringlinge zu stoppen. Was soll ich sagen, es funktioniert. Fährt man mit 30 km/h drüber, erhält man einen glatten Durchschuss, sodass der rostige Nagel auf der einen Seite des Reifen-Mantels reingeht und auf der anderen Seite wieder rausguckt. Hatten wir so auch noch nicht. Aber Walschleben ist ja glücklicherweise nicht das Ende der Welt. Es besteht die Möglichkeit zum Bahnhof zu gehen und dort dem Regionalexpress von Nordhausen nach Erfurt beim Durchfahren zuzusehen. Diese Möglichkeit nutzte ich natürlich. Nachdem ich mit meinem platten Rad dem RE gewunken hatte, sollte ich eine Stunde auf die nächste Bahn nach Erfurt warten. Aber dann kam glücklicherweise der Retter in der Not: ein Freund hatte Zeit, mich und mein Rad in Walschleben, zehn Kilometer nördlich von Erfurt abzuholen und nach Hause zu bringen.

Fazit: es lebe Walschleben, es leben Radwege, auf denen irgendwer (Radfahrer werdens wohl nicht gewesen sein) rostige Nägel verstreut und es lebe der Nahverkehr der DB im Landkreis Sömmerda, oder thüringisch-Brandenburg, wie man auch sagen könnte.

Es rumort

Januar 21, 2009

Man kennt ja diese Tage, an denen man in der Küche steht, aufwäscht, bei gekipptem Fenster und nach einer Dreiviertelstunde beginnt man sich dann zu fragen, warum denn mal wieder ein Hubschrauber über dem Viertel kreist und nervt. Scheint was passiert zu sein, Internet an: TA weiß von nichts, der MDR auch nicht, der Spiegel nicht und die Erfurter Stadtverwaltung auch nicht. Google News: Fehlanzeige.

Es kreist also ein Hubschrauber und keiner weiß von nichts, dann kann es sich ja nur um das besetzte Haus handeln. Und siehe da: ab Mittwoch Aktionswoche gegen die Räumung.  Es rumort ja schon seit einigen Tagen in der linken Szene Thüringens, spätestens seit dem 17. Januar. An diesem Tag starb ein 28-Jähriger aus der Ilmenauer Punkszene, der zu tief ins Glas geschaut hatte, an einer Alkoholvergiftung. Sowas kommt vor, allerdings sollte es nicht in einer Polizeizelle passieren, um einen etwas verdächtigen Beigeschmack zu verhindern. Nun muss der Staatsanwalt klären, ob die Polizisten die ärztliche Untersuchung auf Hafttauglichkeit absichtlich vergessen haben.

In Erfurt indes stehen die Zeichen auf Krieg und auf Nervereien für die Anwohner durch ständiges Hubgeschraube in der Mittagsstunde. Wir dürfen gespannt sein, was in den nächsten Tagen passieren wird, mit dem besetzten Haus. Wird es geräumt? Kommt es zu Ausschreitungen? Oder wird die Entscheidung verschoben und nach einer friedlichen Lösung gesucht?

Neues aus dem Polizeistaat

November 23, 2008

So Herr Schäuble, diesen Artikel können Sie gern drucken und in meine Akte legen, ach nein, sowas gibts ja seit dem Ende des Ministeriums für Sta…. oh, stimmt, blöder Vergleich. Naja, tun Sies halt mit auf die Festplatte, auf der meine Internetverbindungsdaten gespeichert sind.

Am Wochenende bekommt man in Erfurt wirklich regelmäßig ne Meise. Aber nicht primär wegen Familie Stübel aus Niedertopfstedt oder sonstwo, die die Altstadt zum shoppen nutzt und schlendernd im Weg steht, sondern eher wegen der Polizei, wohin das Auge reicht. Wer mal ein bisschen Zeit in der Schweiz verbracht hat, wird schon die Polizeipräsenz in einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt (also nicht in Mügeln) als lästig empfinden, aber Wochenenden in Erfurt setzen da ganz andere Prioritäten und dieses Wochenende ganz besonders. Normalerweise ist am Wochenende in Erfurt Fußball, das bedeutet: grüne Landschaften vom Bahnhof südwärts, aber leider nicht nur im Stadtpark. Soweit mag das ja alles noch nachvollziehbar sein, aber dieses Wochenende kam dann noch eine Demonstration zu einem sensiblen Thema dazu. Es geht – mal wieder – um die alten Fabrikhallen der Firma J. A. Topf und Söhne in Daberstedt südlich des Hauptbahnhofs. Diese Firma stellte im Zweiten Weltkrieg die Technik für KZ-Massenverbrennungsöfen und Entlüftungsanlagen für Gaskammern her. Die Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen und einige Investoren wollen die strategisch gut gelegene Brachfläche seit Jahren zum Bau neuer Wohn- und Geschäftshäuser in unmittelbarer Innenstadtnähe nutzen. Dafür sollen die alten Topfschen Werkshallen abgerissen werden, ein Gebäude soll als Museum erhalten werden. Dagegen formierte sich Widerstand in Form linker Hausbesetzer, die seit einigen Jahren auf dem Gelände eine Art Kulturzentrum betreiben. Da die Fläche jetzt „geräumt“ werden soll, fand gestern in der Erfurter Innenstadt eine Demonstration statt (weiterführend zum Thema: taz, Spiegel, MDR, TA). An der Demonstration nahmen 700 Menschen teil, gefühlt ebenso viele grüne Panzerkäfer sowie einen Hubschrauber etc. steuerten die Thüringer Steuerzahler dankenswerterweise ebenfalls bei. Was dieses Theater gekostet hat, möchte ich lieber gar nicht erst wissen. Genutzt hat es ohnehin nichts, die Proteste blieben weitgehend friedlich, nur 0,14% aller Demonstranten mussten festgenommen werden. Damit die Aktion für die Datensammler dieser Welt nicht ganz unnütz bleibt, speicherte man immerhin die Daten von 152 Demonstranten.

Dennoch stellt sich die Frage, warum es in der Landeshauptstadt immer häufiger immer massivere Polizeipräsenz in der Innenstadt gibt. Auch muss die Sinnhaftigkeit dieser Präsenz hinterfragt werden, denn billig sind diese Einsätze sicher nicht, was angesichts klammer Staatskassen nicht unbedingt gut ist. Könnte man das Geld nicht auch sinnvoller ausgeben? Außerdem hat das ganze zusätzlich immer einen gewissen Beigeschmack – ich fühle mich jedenfalls unwohl, wenn ich in einer Stadt laufend an irgendwelchen Polizeistreifen vorbeikomme. Polizeipräsenz hat normalerweise immer einen Grund und wenn man keinen offensichtlichen Grund (z.B. Fußball) ausmachen kann, wird es wohl ein subtiler Grund sein. Subtile Gründe sollte es allerdings in liberalen Gesellschaften genausowenig geben, wie Demonstrationen, die mit massivem Polizeiaufgebot „begleitet“ (oder doch eher „begegnet“?) werden. Es ist nahezu egal, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit man in Erfurt ist, am Hauptbahnhof und am Anger wird man ständig auf irgendwelche Polizisten stoßen, allerdings sehe ich nicht ein, warum ich und andere Bürger das bezahlen sollten.

Der 01.01.19 in der Metallstraße

November 9, 2008

Gewissermaßen begann ja am 9. November 1989 in Ostdeutschland eine neue Zeit. Deshalb nehmen wir das mal zum Anlass für einen kleinen Spaziergang weg vom Brandenburger Tor, hin zur Realität. Die Realität ist laut Mama Wiki das, was wirklich da ist, im Gegensatz zu dem, was nur gedacht ist (z.B. Ideale). Dann unterstellen wir der Realität, dass man sie bei einem Spaziergang sehen wird. Beginnen wir diesen Spaziergang also an der Haltestelle Boyneburgufer am Rande der Erfurter Innenstadt und führen ihn weiter, die Magdeburger Allee hinab. Ganz klar: Ostdeutschland ist angekommen; das Erste, was ins Auge fällt, ist der glasglitzernde Neubau der Stadtwerke Erfurt. Dahinter die Kirche, teilsaniert. Auch irgendwie symptomatisch für die neuen Länder und ihre Zeit. Es folgt: sanierte Kaiserzeit vor saniertem Plattenbau. Beides mit der selben Leerstandsquote. Bis hierhin würde ein Politiker die Kamera mitlaufen lassen, denn bis hierhin ist es vertretbar.

Dann kommt der Ilversgehofener Platz und mit ihm erste Zweifel. Gleich vorn rechts fällt eine riesige Brache ins Auge, links fehlt ein Haus und hinten mehrere. Was wohl auf der Brache stand? Wahrscheinlich ein altes Fabrikgebäude, jüngst abgerissen. Auf wen die anderen Lücken zurückgehen? Jedenfalls muss da früher mal was gestanden haben. Auf der anderen Seite fällt die nagelneue, hübsch hergerichtete Stadtbahn-Haltestelle auf. Der Ilversgehofener Platz spiegelt also die gängige Förderpolitik wider: Stadtumbau-Ost-Mittel für den Abriss von leerstehenden Ruinen, Infrastrukturfördermittel zum Ausbau der Stadtbahn. Dass daraus nicht zwangläufig Lebensqualität resultiert, zeigt der Platz deutlich. Okay, die Bäume sind gut gemeint, aber ein Platz mit lückenhafter und teils leerstehender Randbebauung kann kein Ort sein, der zum Verweilen einlädt. So bleibt es hier fraglich, ob auf den Bänken jemals jemand anderes außer arbeitslosen Jugendlichen Platz nimmt. In Berlin wäre das ein Fall für ein Kulturzentrum und viel private Eigeninitiative.

Nun kreuzt die Salinenstraße, in der der stete Wechsel zwei- und fünfstöckiger Mietshäuser einen besonders ärmlichen Eindruck erzeugt. In diesen Häusern müssen sie gewohnt haben, die Leute, die Marx meinte, als er von Antagonie sprach. Die Industriearbeiter Erfurts, bis wann werden sie hier gewohnt haben? Vielleicht bis 1980? Danach Roter Berg? Dann Heidelberg? Oder immer noch Roter Berg, aber nicht mehr Arbeiter, sondern arbeitslos? Oder – davon gibt es ja auch viele – Wendegewinner und inzwischen Eigenheimbesitzer in Marbach? Das sind die Fragen, die einem kommen. Eine Straßenbahn kommt vorbei, es ist eine 5, sie fährt vom Park zum Garten, wenn man so will. Dazwischen liegt die Magdeburger Allee. Ein Blick ins Innere der Bahn zeigt, dass wir in einem Stadtteil der Alten sind, in einem der Alleinerziehenden, in einem der Perspektivlosen.

Ein alter Mann kommt vorbei, er spricht mich an und fragt, für welche Zeitung ich denn hier fotografiere. Er erwartet jetzt, dass ich für irgendeine westdeutsche Lokalzeitung eine Serie über die deutsche Einheit mache und nun mal wieder so richtig in die Klischeeschublade greifen will, weshalb ich in den Ilversgehofener Norden gekommen bin. Ich muss ihn enttäuschen, ich bin privat hier. „Viele kommen nach 20 Jahren wieder und gucken, was sich so verändert hat“ sagt er. Ich antworte ihm, dass ich in 20 Jahren auch wiederkommen werde, um mir das andere Erfurt anzusehen, jenes, das nicht zu den 85 sanierten Prozenten gehört. Dann reden wir noch ein bisschen über die immerwährenden Veränderungen, über Vergangenheit und Zukunft, bevor er weiter seines Weges geht.

Ich gehe weiter und komme zum Bahnhof Erfurt Nord. Inmitten einer Brachfläche steht das kleine, alte Empfangsgebäude, verschlossen und vernagelt. Am Bahnhof hängen Tafeln, auf denen Nordhausen steht, auch Straußfurt und Bad Langensalza sind aufgeführt. Nach der Wende hat jemand Kassel Wilhelmshöhe dazugeklebt, später kam noch der Regional-Express-Aufkleber dazu. Ansonsten hat sich seit 1960 nichts verändert. Es entsteht eine extrem unwirkliche Szene, erzeugt durch die riesige Mälzerei auf der linken Seite, die Straßenbahn-Hochbrücke über die Nordhäuser Bahn in der Mitte und die Brachfläche der Metallwerke Bruno Schramm zur Rechten. Hinter der Wiese liegt die Metallstraße. Als Ilversgehofen noch ein eigenständiger Ort war, hieß sie Anger. Der Anger ist ein Handelsplatz, aber DEN Anger gibt es ja in Erfurt schon, weshalb die Straße seit 1912 Metallstraße heißt. In dieser Zeit entstanden auch die Häuser hier, zwölf Stück sind es, je vier Etagen, schön verziert – dem Zeitgeschmack entsprechend – im Jugendstil. Jedoch wohnen hier wahrscheinlich seit der späten DDR-Zeit keine Menschen mehr. Drei Häuser sind gelb, die anderen grau und unten vermauert, oben verfallen. Auf der Ecke zur Triftstraße wirbt rote Leuchtschrift für eine Live-Show, die wahrscheinlich seit 15 Jahren nicht mehr stattfindet. Dennoch gibt es zwei Etablissements in der Straße, die auch bei geschlossener Jalousie geöffnet haben. Es scheint, als habe die Gegend kapituliert, vor der neuen Zeit, der neuen Welt und den alten Werten.

Hinter der Bahn liegen die Hohenwinden- und die Grubenstraße, dazwischen einige Wohnhäuser, von denen manche bewohnt und saniert sind. Es sind allesamt schöne Häuser, jedoch wirken sie etwas verloren in einer Gegend, in der es mehr Brachflächen als alles andere gibt. Auf der Ecke wirbt das Hotel Feldschlösschen mit zwei Sternen im Fenster um Gäste. Dahinter liegt die Bauhaus-Siedlung Jacobsenviertel an der Teichstraße. Helle Häuser, umgeben von viel Grün, einst als Ideal des sozialen Wohnungsbaus entstanden, jüngst aufwendig saniert und in freundlichen Gelbtönen angemalt. Man kann hier sicher schön wohnen. Hinter der Grubenstraße liegt eine Wendeschleife der Straßenbahn, daneben ein Busbahnhof und in der Mitte ein leerstehendes Funktionsgebäude der Verkehrsbetriebe. Hier endet die Magdeburger Allee inmitten von Brachen und leerstehenden Industriegebäuden. Eine 5 kommt und hält an der Grubenstraße, sie nimmt mich wieder mit zurück in das andere Erfurt, das ich kenne und schätze. Die Reise endet hier.

Ich muss noch einmal an den alten Mann denken. Der Wendekalender zeigt den 01.01.19 an, vielleicht komme ich nochmal wieder, dann, wenn auch die realen Kalender den 01.01.19 anzeigen, oder auch in 19 Jahren. Ich bin gespannt, wieviel dann im Ilversgehofener Norden noch steht, was bis dahin verschwindet und was neu hinzukommt. Bisher kann man nur feststellen, dass einige Gegenden in den neuen Ländern nach wie vor „Entwicklungspotenzial“ haben, um mal einen euphemistischen Begriff aus der staatlichen Raumplanung zu verwenden.